Unterkühlung erkennen & handeln – Symptome, Erstmaßnahmen, Entscheidungs-Tools
Unterkühlung ist im Outdoor-Alltag kein seltenes Ereignis, sondern das Ergebnis aus Wind, Feuchte, Erschöpfung und zu spätem Wärmemanagement. Dieser Leitartikel bündelt zuverlässige Signale, erklärt die Physiologie hinter typischen Fehlern und führt durch klare Handlungswege – vom ersten Frösteln bis zur schweren Hypothermie. Ein Mini-Rechner hilft, das Risiko aus Temperatur, Wind und Nässe einzuordnen.

1) Physiologie kurz & präzise
Der Körper hält den Kern (Gehirn, Herz, Lunge) um 37 °C. Kälte löst Gefäßverengung in Haut und Extremitäten aus; Wärme wird ins Zentrum verlagert. Gleichzeitig steigt der Grundumsatz und Zittern erzeugt zusätzliche Wärme. Feuchte Kleidung erhöht den Wärmeverlust durch Verdunstung, Wind beschleunigt die konvektive Abfuhr. Problematisch wird es, wenn die Wärmeerzeugung (Energie/Bewegung) geringer ist als der Verlust oder wenn Erschöpfung und Dehydratation die Thermoregulation ausbremsen.
Zwei Fachbegriffe sind praxisrelevant: Afterdrop bezeichnet das weitere Abfallen der Kerntemperatur nach Rettung durch Rückfluss kalten Bluts aus der Peripherie. Rettungskollaps beschreibt den Kreislaufzusammenbruch beim plötzlichen Aufstehen/Bewegen stark Unterkühlter. Beides vermeidet man durch ruhige, horizontale Lagerung, langsame kernnahe Erwärmung und vorsichtige Bewegungen.
2) Stadien sicher unterscheiden
Stadium | Leitsymptome | Risiken | Erstmaßnahmen |
---|---|---|---|
Mild (≈ 35–32 °C) | Kältegefühl, Zittern, „Fummeligkeit“, langsame Feinmotorik | Energieverlust, Koordinationsfehler | Windschatten, nasse Schichten aus, trockene an, warme süße Getränke, kleine Bewegung nach Erwärmung |
Moderat (≈ 32–28 °C) | Starkes Zittern oder beginnende Apathie, verwaschene Sprache | Sturz, Rhythmusstörungen | Passive Erwärmung plus Wärmflaschen an den Rumpf (Achsel/Leiste), horizontal lagern, nur trinken lassen wenn sicher schluckfähig |
Schwer (&0 28 °C) | Kein Zittern, Bewusstsein getrübt bis bewusstlos, flacher Puls | Kammerflimmern, Atemstillstand | Schonende Lagerung, Kopf/Brust warm abdichten, keine Getränke/Nahrung, Notruf, vorbereiten für Reanimation nach Leitlinie |
3) Praxis-Algorithmus: von Erstkontakt bis Entscheidung
- Szene sichern: Weg vom Wind auf die Leeseite, Tarp/Plane als Windbarriere, Bodenkontakt mit Isomatte unterbrechen.
- Schneller Check (ABC): Atmung/Puls ansprechbar? Luftweg frei? Blutung? Danach kältebezogene Zeichen bewerten (Zittern, Verhalten, Koordination).
- Nässe raus: Nasse Handschuhe/Socken, feuchte Basisschicht ab; trockene Baselayer/Isolationsjacke an. Kopf bedecken.
- Wärme in den Kern: Wärmflaschen 40–45 °C an Achseln/Leisten (Stofflage dazwischen), Decke/Schlafsack/Tüte darüber.
- Energie: Warmer, süßer Tee und leicht verdauliche Kohlenhydrate, nur bei wachen, sicher schluckfähigen Personen.
- Entscheidung: Besserung innerhalb von 15–30 Minuten? Wenn nein, Abbruch/Evakuation einleiten. Bei schwerer Hypothermie: Notruf, ruhige Lagerung, kontinuierliche Überwachung.

4) Passiv vs. aktiv erwärmen – Dos und Don’ts
Maßnahme | Geeignet für | Hinweis |
---|---|---|
Trockene Kleidung + Isolationslage | alle Stadien | Baselayer trocken entscheidet; Daune nur trocken verwenden |
Wärmflaschen an den Rumpf | mild–moderat | Nie zu heiß; keine direkte Hautapplikation |
Moderate Bewegung | nur mild | Erst nach Erwärmung und Koordinationsrückkehr; Sturzrisiko beachten |
Heißes Bad/Dusche | keins | Gefäßweitstellung → Kollaps/Afterdrop, draußen ungeeignet |
Alkohol | nie | Gefäßerweiterung, Wärmeverlust, Fehlerurteile |
5) Mini-Rechner: Kälte-Risiko (Temperatur, Wind, Nässe)
Der Rechner schätzt die gefühlte Temperatur über eine vereinfachte Windchill-Formel und berücksichtigt Nässe als zusätzlichen Kältefaktor. Ergebnis ist eine Handlungsstufe. Näherungswert – im Zweifel konservativ entscheiden.
Risiko-Schätzung Unterkühlung
Ergebnis: –
Windchill vereinfacht; Nässe abstrahiert als zusätzlicher Kühleindruck. Immer klinische Lage entscheiden lassen.
6) Sonderlagen: Berg, Wasser, Kinder, Senioren
6.1 Am Berg
Wind nimmt mit Höhe zu, freie Rücken beschleunigen Strömung. Pausen nur im Lee, Lagenwechsel ohne Stehenbleiben (Rucksack als Windschutz). Abstieg in wärmere Schichten früh planen; Gipfelziele werden zugunsten sicherer Querungen gestrichen.
6.2 Wasser/Immersion
Nasses Material potenziert Verdunstungskälte. Nach Durchquerungen: sofort trockene Baselayer, Füße/Zehen sorgfältig abtrocknen, Wärmezufuhr an den Rumpf, warme Süßgetränke. Bei Teilimmersion (Regen von oben) sind Kapuze, Tropfkante und trockene Reserve kritischer als Daunenstärke.
6.3 Kinder
Höheres Verhältnis Oberfläche/Körpermasse, geringere Wärmereserven. Früher Windschutz, frühere Pausen mit Energiezufuhr, Reserveschichten groß einplanen. Kommunikation beobachtbar machen: „Kalt?“, „Finger fühlbar?“, „Lust weiterzugehen?“. Abbruchschwelle niedriger setzen.
6.4 Senioren
Häufigere Vorerkrankungen und Medikamente (zum Beispiel Betablocker, Diuretika) reduzieren Reserven. Langsamer Erwärmen, häufiger trinken, und Pausenstruktur strenger einhalten. Frühzeitige Evakuation, wenn Apathie oder Koordinationsverlust auftreten.
7) Energie- und Flüssigkeitsmanagement
Ohne Energie keine Wärme. Ziel sind leicht verdauliche Kohlenhydrate (Riegel, Gels, warme Süßgetränke), ergänzt um etwas Fett/Protein für längere Phasen. Dehydratation mindert die Durchblutung der Haut und begünstigt Kälteempfinden. Trinken vor dem Kältefenster, nicht erst danach. Salzverluste werden über normale Ernährung ausgeglichen; hochkonzentrierte Salzlösungen sind draußen überflüssig.

8) Entscheidungs-Matrix: bleiben, bewegen, abbrechen
Lage | Indikatoren | Entscheidung |
---|---|---|
Grün | Zittern, klarer Kopf, Koordination gut, schnelle Besserung nach Maßnahmen | Weiter mit verkürzten Etappen, zusätzliche Schicht, häufige Energiezufuhr |
Gelb | Starkes Zittern oder beginnende Verlangsamung, unsichere Koordination | Abkürzen/Abstieg, weitere Erwärmung, Gruppenmanagement anpassen |
Rot | Apathie, Sprach- oder Gangstörung, kein Zittern | Evakuation/Notruf, passive Erwärmung, ruhige Lagerung, Monitoring |
9) Gruppenmanagement & Kommunikation
- Frühe Zeichen adressieren („mir ist kalt“ ist eine Maßnahme, kein Makel).
- Rollen klar verteilen: Windschutz aufbauen, trockene Schichten reichen, Heißgetränk zubereiten, Wärmflaschen füllen.
- Check-Rhythmus: alle 20–30 Minuten kurze Abfrage nach Händen/Füßen, Kopf und Motivation.
- Bei Transport: ruhige, horizontale Lage; Trage/Schlitten improvisieren, keine hektischen Bewegungen.
10) Dokumentation & Nachsorge
Zeitpunkte notieren (Beginn Kälte, Maßnahmen, Getränke, Wärmflaschen), mentale Lage, Koordination und Hautfarbe. Nach Abbruch: warmen, ruhigen Raum, leichte Kost, Flüssigkeit; keine schnellen Saunagänge oder heiße Bäder. Bei Bewusstlosigkeit, Arrhythmien, Brustschmerz oder anhaltender Apathie medizinische Behandlung veranlassen.