Gewitter draußen – Erkennen, 30/30-Regel richtig anwenden, sicher handeln
Gewitter sind für Outdoor-Touren vor allem wegen Blitzen, Sturmböen und Starkregen gefährlich. Wer die typischen Anzeichen rechtzeitig erkennt, die 30/30-Regel korrekt anwendet und im Gelände passende Entscheidungen trifft, reduziert das Risiko deutlich. Dieser Leitfaden erklärt Schritt für Schritt, wie ein Gewitter entsteht, wie es sich aus der Entfernung „ankündigt“ und welches Verhalten an Berg, im Wald oder auf Freiflächen wirklich schützt.

1) Vom ersten Schleier bis zur Zelle: Anzeichen zuverlässig lesen
Stunden vor einem Gewitter erscheinen häufig hohe Schleierwolken (Cirrus/Cirrostratus), gelegentlich mit Halo um Sonne oder Mond. Diese Vorboten weisen auf eine herannahende Front hin. Bis ein Gewitter tatsächlich entsteht, steigen im Tagesverlauf flache Haufenwolken (Cumulus humilis) auf, die mit zunehmender Labilität zu ausgeprägten Haufen (mediocris, später congestus) anwachsen. Das sichtbare „Reifwerden“ zur Gewitterzelle begleitet eine deutliche Vertikalentwicklung, eine dunkler werdende Unterseite und das Ausbilden eines Ambosses in großer Höhe. Spätestens jetzt muss klar sein, wohin die Zelle zieht und welche Ausweichlinie erreichbar ist.
Phase | Signale | Interpretation | Konsequenz |
---|---|---|---|
Vorfeld (6–12 h) | Schleier, Halo | Front nähert sich | Tourfenster planen, exponierte Abschnitte vorziehen oder streichen |
Aufbau (1–4 h) | Haufen werden höher | Konvektion nimmt zu | Leewege im Kopf, Regenschutz vorbereiten |
Reife (0–60 min) | Amboss, Böenwalze, Vorhänge | Gefährliche Zelle in der Nähe | 30/30 aktiv, sichere Orte ansteuern |
Durchgang | Sturmböen, Starkregen/Hagel | Höchstgefahr | Schutzstellung, Abstand zu Leitern für Strom |
Nachphase | Donner seltener | Gefahr sinkt, besteht fort | 30 Minuten nach letztem Donner abwarten |
2) Die 30/30-Regel
Die 30/30-Regel besteht aus zwei einfachen, aber wirkungsvollen Teilen. Erstens: Vergehen zwischen sichtbarem Blitz und hörbarem Donner weniger als 30 Sekunden, ist die Zelle näher als ungefähr zehn Kilometer. In diesem Radius treten gefährliche Einschläge, Seitenblitze und starke Böen besonders häufig auf. Konsequenz: sofortiger Wechsel in Schutzverhalten und Meiden exponierter Punkte. Zweitens: Nach dem letzten Donner wird 30 Minuten gewartet, bevor die Tour fortgesetzt wird. Begründung: In der Nachphase sind Blitze aus dem Amboss („out of the blue“) und aus nachlaufenden Teilzellen möglich, obwohl es bereits aufgeklart scheint. Die Wartezeit ist ein Sicherheitskorridor, nicht bloß eine Empfehlung.
Wer genauer rechnen möchte, kann die Entfernung über die Schallgeschwindigkeit abschätzen. Für Entscheidungen im Gelände reicht die 30-Sekunden-Schwelle; Lautstärke des Donners ist ungeeignet, da Gelände und Wind sie stark beeinflussen.
3) Mini-Rechner: Entfernung des Blitzes
Messen Sie die Sekunden zwischen Blitz und Donner. Optional kann eine geschätzte Lufttemperatur einfließen; sie ändert die Schallgeschwindigkeit nur leicht. Das Ergebnis hilft, die 30/30-Regel einzuordnen.
Blitz–Donner-Entfernung
Ergebnis: –
Richtwert: < 30 s entspricht < 10 km – Schutzverhalten einleiten und exponierte Zonen meiden.
4) Sicher handeln: Berg, Wald, Freifläche
Auf Graten, Gipfeln und freien Hochflächen ist die Trefferwahrscheinlichkeit erhöht. Sobald die 30-Sekunden-Marke unterschritten wird, führen sichere Schritte weg von der Kante auf die Leeseite und in Geländeformen, die eine Mulde oder zumindest niedrigere Exposition bieten. Im Wald ist nicht der Wald an sich das Problem, sondern einzelne hohe Bäume, Waldränder und Lichtungen. Am sichersten sind Bestände mit vielen Bäumen ähnlicher Höhe; dort hält man 3–5 Meter Abstand zu Stämmen und Wurzeltellern und nimmt die Schutzstellung ein. Auf Freiflächen ist die Senke mit trockenem Untergrund besser als der höchste Punkt. Metall verändert die Blitzwahrscheinlichkeit kaum—es lohnt nicht, Ausrüstung zu verstreuen—doch es sollte eng am Körper bleiben, statt abstehend zu wirken.

5) Schrittspannung und Seitenblitz
Fließt Blitzstrom in den Boden ab, fällt die Spannung mit der Entfernung vom Einschlagpunkt ab. Stehen die Füße weit auseinander, liegt zwischen ihnen ein höherer Spannungsunterschied—genau den möchte man vermeiden. Deshalb ist die Schutzstellung kleinflächig: die Fersen berühren sich, die Knie sind angezogen, die Unterlage isoliert zusätzlich. Ein Seitenblitz entsteht, wenn ein stromführender Baum oder Mast einen Teil der Energie seitlich „überspringen“ lässt; deswegen hält man Abstand zu hohen Einzelobjekten und ihren feuchten Stammfüßen.
6) Gruppe, Zeitmanagement und Material
In einer Gruppe funktioniert Gewittermanagement am verlässlichsten, wenn Rollen klar sind: Eine Person zählt die Blitz-Donner-Zeit, eine zweite beobachtet Zugrichtung und Wolkenentwicklung, eine dritte organisiert Tempo und Abstände. Während der kritischen Phase wird der Abstand zwischen den Personen auf fünf bis zehn Meter vergrößert, damit nicht alle gleichzeitig betroffen sein können. Regenjacke, isolierende Sitzmatte, Erste-Hilfe-Set, Biwaksack und Stirnlampe liegen obenauf im Rucksack, damit keine hektische Suchzeit entsteht. Nach dem letzten Donner beginnt die 30-Minuten-Nachlaufzeit; erst wenn sie abgelaufen ist, setzt die Gruppe ihre Route fort.
7) Erste Hilfe nach Blitzunfall
Bei Blitzunfällen gilt eine Umkehr der üblichen Prioritäten („Reverse Triage“): Personen ohne Atmung oder Puls werden zuerst versorgt, weil Reanimation hier eine bessere Erfolgswahrscheinlichkeit hat als bei vielen anderen Ursachen. Zuvor wird kurz der Eigenschutz geprüft: Besteht noch unmittelbare Blitzgefahr, wechseln Checks und Schutzstellung. Ist die Lage stabil, folgen Atem- und Kreislaufkontrolle, Herz-Lungen-Wiederbelebung bei Bedarf und das sterile Abdecken von Ein- und Austrittsstellen. Schmuck wird frühzeitig entfernt, da Schwellungen rasch einsetzen können. Betroffene sind nicht „geladen“; körperlicher Kontakt ist sicher.

8) Jahreszeitliche Besonderheiten (Mitteleuropa)
Im Frühjahr treiben kalte Rückseiten nach Frontdurchgängen Schauer und Graupel an; winddichte Kleidung und warme Schichten sind entscheidend, schattige Nordhänge können Restschnee führen. Im Sommer dominieren konvektive Lagen: Gewitter entstehen häufig am Nachmittag, daher lohnt sich ein sehr früher Start und das Meiden der Mittagshitze. Der Herbst bringt eher Schichtbewölkung mit langen Regenphasen und zähen Nebeln in Mulden; reflektierende Markierungen und großzügige Tagesplanung helfen. Im Winter treten in Kaltluftlagen Schneeschauer und eisige Böen auf; bei Sheltern muss die Dachlast berücksichtigt und zugleich gelüftet werden, damit keine Feuchte im Innenraum kondensiert.